„Gay Girl in Damascus“ ist ein US-Student in Schottland

Qualtinger gab sich als Eskimodichter aus, ein Franzose als Mossad-Agentin. Nun erfand ein Student eine lesbische syrische Bloggerin.

Subtext

Helmut Qualtinger hatte es sich nicht leicht gemacht: Um sein Vorhaben umzusetzen, musste er stehlen, nämlich das Briefpapier des PEN-Clubs. Auf diesem Papier schrieb er die österreichischen Medien an und berichtete von einer veritablen Sensation: Der weltberühmte Eskimodichter Kobuk werde in Wien aus seinem Werk lesen. Zum angekündigten Termin wartete denn auch ein ganzer Tross Journalisten und Fotografen am Westbahnhof auf den prominenten Gast. Dem Zug entstieg: Qualtinger, vermummt im Pelzmantel.

Heute hat es niemand mehr nötig, Briefpapier zu entwenden. Es genügt ein Internetzugang – und ein bisschen Fantasie. Der in Schottland studierende US-Amerikaner Tom MacMaster hatte beides, und setzte die Geschichte einer jungen lesbischen Syrerin in die weite Welt des Web: Der Titel seines Blogs – „A Gay Girl in Damaskus“ – war klug gewählt und garantierte maximale Aufmerksamkeit. Amina Abdullah Arraf al-Omari erzählte aus ihrem Leben, von ihrem Kampf für einen demokratischen Wandel in Syrien – und davon, wie ihr Vater es in letzter Minute geschafft hatte, Geheimdienstler abzuwimmeln. Die Bloggerin musste untertauchen. Drei Tage später meldete sich eine Cousine verzweifelt zu Wort: Amina sei entführt worden! Die rasch ins Netz gestellte Facebook-Seite hatte binnen kurzem 15.000 Anhänger.

Eine mitreißende Geschichte. Erste Zweifel regten sich, als eine Britin sich zu Wort meldete, weil sie im Konterfei der Amina, das durchs Netz und die Medien geisterte, sich selbst erkannte. Schließlich blieb Tom MacMaster nichts anderes übrig, als sich zu outen: Er glaube, keinen allzu großen Schaden angerichtet zu haben, meint er in einer Stellungnahme. Und er sei tief berührt gewesen von all den Reaktionen.

Hat es ihm das Internet zu leicht gemacht? Sicher ist: Geschichten, die aufregender sind als das Leben selbst, haben es schon früher immer wieder an die breite Öffentlichkeit geschafft: Einmal musste die „Washington Post“ zugeben, einer Fälscherin auf den Leim gegangen zu sein: Eine Journalistin hatte den achtjährigen Heroinsüchtigen „mit den Einstichstellen in der babyweichen Haut“ schlicht erfunden. Dann wieder pries der Kindler-Verlag die konstruierte Autobiografie einer französischen Jüdin, die als israelische Agentin die Hisbollah ausspioniert haben wollte, als „atemberaubendes Dokument“ an. SternTV brachte Berichte über ein Ku-Klux-Klan-Treffen, das der Filmer mit Freunden inszeniert hatte. Und Tom Kummer schrieb sich die Interviews mit Prominenten, die im „SZ-Magazin“ erschienen, gleich selbst.

Im Nachhinein ist es leicht zu sagen, die Fälschung wäre als solche zu erkennen gewesen. Auch Qualtingers Coup, wissen manche, hätte man enttarnen können: Den 29. Februar 1889, an dem Kobuk angeblich geboren ist, gibt es nämlich gar nicht. 1889 gar kein Schaltjahr! Allen, die trotzdem zum Westbahnhof gekommen waren, raubte Qualtinger spätestens dort die letzten Illusionen: Auf die Frage, welchen ersten Eindruck er von Wien gewonnen habe, antwortete der Eskimodichter in breitem Wienerisch: „Haaß is“.

E-Mails: bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.